Rede von Dr. Friedrich Weltzien, Universität Potsdam, anlässlich der Ausstellungseröffnung "(aus)gelöst" am 17. November 2009 im ARD-Hauptstadtstudio in Berlin.

"(aus)gelöst" hat der Künstler seine Schau genannt – damit spielt er auf das Medium seiner Bildproduktion an: das Moment des Auslösens beim Fotografieren. Mir kommt aber vor, es geht auch um ein Wortspiel. Denn die Bilder vermitteln in ihren Verwaschungen den Eindruck, als befänden sie sich in einem Stadium der Auflösung, als wären sie aus ihrem Fotografiesein bereits ein Stück weit herausgelöst. Aber – und das halte ich für einen sehr interessanten und aufschlussreichen Aspekt von Pleßmanns Kunst – indem sie sich aus dem Medium der Fotografie herauslösen, finden sie sich in einen Bilderkanon ein, der Assoziationen zu Meisterwerken der klassischen Moderne erlaubt. Interessant ist das deshalb, weil Pleßmann damit auf eine Assoziation zur Malerei hinarbeitet. Einige Werke ähneln auf den ersten Blick konstruktivistischen Bildern, so wie sie mit geradezu kristalliner Strenge aufgebaut sind. Andere scheinen die dynamische Aufsplitterung des Futurismus aufzunehmen oder auf die luzide, glasartige Transparenz der Strahlenbündel von Lyonel Feiningers postexpressionistischen Kirchtürmen zu verweisen.

"Der Blick auf eine Wendeltreppe kommt meinem historischen Auge wie ein Zitat von Marcel Duchamps berühmter Ikone des Kubismus vor: "Akt eine Treppe herabsteigend" von 1917 – mit dem einen Unterschied, dass der Akt bei Pleßmann die Treppe inzwischen offenbar verlassen hat. Einige der Landschaften erwecken gar den eigentümlichen Eindruck, als handele es ich um Abbildungen von Gemälden von Gerhard Richter, der in den 1970er Jahren mit der malerischen Darstellung von unscharfen Fotografien seinen Ruf als Malerfürst begründete. Pleßmann zieht die Schraube der Referenz hier – so könnte man sagen – noch eine Drehung weiter. Wie kommt es zu diesen eigenartigen Effekten?
Es ist bedeutsam, dass es sich nicht um nachträgliche Manipulationen am Rechner handelt – sondern um ein gewissermaßen analoges Verfahren, ein Resultat mechanischer Eingriffe während der Aufnahme des Bildes. Pleßmann arbeitet mit langen Verschlusszeitenzeiten und bewegt den Apparat während der Belichtung. Entweder in horizontaler Richtung, indem er aus einem fahrenden Zug heraus fotografiert, oder in den Interieurs und bei der Architekturfotografie in vertikaler Richtung. Für bedeutungsvoll halte ich diesen Aspekt deshalb, weil der Künstler damit einen genuin fotografischen Effekt betont. Diese Bilder mögen malerisch wirken – ihr Zustandekommen ist aber rein fotografisch, er kann so nur im Medium der Fotografie hervorgebracht werden. Worin besteht nun die so hervorgebrachte Bedeutung, dieser medial bedingte Sinn der Bilder? Erlauben Sie mir zur Erläuterung einen kurzen Ausflug in die Geschichte der Fotografie. Im Januar 1839 veröffentlichte in Paris der Maler und Tüftler Louis Daguerre sein fotografisches Verfahren. Nur wenige Tage danach zieht in London der britische Gelehrte und Erfinder William Henry Fox Talbot nach – aufgeschreckt durch die Zeitungsmeldungen vom Kontinent. So unterschiedlich ihre jeweiligen Verfahren auch gewesen sind, ein Kennzeichen der beiden Techniken wird vom Franzosen wie vom Engländer mit großer Betonung hervorgehoben: Die ungeheuerliche Detailgenauigkeit, die bis dato ungekannte räumliche Auflösung der so gewonnenen Bilder. Auch der geschickteste Kupferstecher war nicht in der Lage, so fein zu arbeiten. Schon lange zuvor gab es in der Kunst die Idee, dass das unendlich scharfe Sehen wohl eine göttliche Eigenschaft sein müsse. Wir Menschen als endliche Kreaturen müssen mit den Einschränkungen unserer Augenoptik leben, die es uns nicht erlaubt, sehr kleine oder weit entfernte Dinge erkennen zu können. Nur im Paradies würde es möglich sein, alles und alles knackscharf zu sehen. Die Fotografie erschien wie eine Erfüllung des paradiesischen Sehens. Mit ihr konnte man durch das Mikroskop wie auch durch das Fernrohr alles in den Bereich des Sichtbaren holen. Selbst Vorgänge, die so schnell ablaufen, dass sie sich unserem Blick entziehen, wurden auf der Fotoplatte gestoppt und konnten zum Gegenstand eingehender Untersuchung werden. So betrachtet macht Pleßmann hier nicht weniger, als uns wieder aus dem Paradies zu vertreiben. Begeht er mit der methodischen Unschärfe nicht Verrat an der Fotografie?
Das denke ich nicht. Denn er kann sich auf eine illustre Ahnenreihe von Künstlern berufen, die ebenfalls mit diesen fotografischen Effekten gespielt haben. Zu den Ersten, die mit Bedacht die Unschärfen der Fotografie künstlerisch nutzten, gehörte der Franzose Eugene Delacroix. Man kennt ihn zumeist als spätromantischen Maler – aber als Bilderproduzent war von den Möglichkeiten des neuen Mediums fasziniert und gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Societe Heliographique, die ab 1851 die erste künstlerische Fotografiezeitschrift herausgab.
Delacroix fand nun aber nicht die Minutiosität des Fotografischen interessant, die die Erfinder der Fotografie so lobten. Er sagt, diese Vorstellung eines paradiesischen Sehens, dass alles fokussiert, sei eine grauenvolle Vorstellung. Auf dem Haus das Dach, auf dem Dach die Ziegel, auf den Ziegeln das Moos, auf dem Moos der Käfer – all das sehen zu können und sehen zu müssen wäre für ihn eine Höllenpein.
Aus diesem Grund faszinieren ihn gerade die Fehler des Verfahrens. Jene Verwischungen und Fehlstellen, an denen die Abbildung verschwindet und Phänomene erscheinen, die nur aus der optischen Apparatur oder den chemischen Prozessen entstanden sein können. Nur an diesen Stellen, die er "lacune" oder "défault" nennt, könne sich das Auge erholen, hier liege ein "repos sur l'oeil".
Und dann geht Delacroix noch einen Schritt weiter: Weil dies Bildelemente seien, die man mit malerischen Mitteln nicht hervorbringen könne (es gibt tatsächlich Zeichnungen in seinen Skizzenbüchern, wo er versucht, solche Fehler abzuzeichnen), weil also diese Strukturen nur und ausschließlich fotografisch herstellbar sind, käme doch genau hier die Fotografie zu sich selbst. Das halte ich für eine hochinteressante These, die aus Sicht der Philosophie noch viel zu wenig bedacht worden ist: Nicht dort, wo die Fotografie minutiös abbildet, ist sie ganz sie selbst, sondern dort, wo sie das zeigt, was nur die Fotografie zeigen kann.

Die Fotopraxis hingegen nutzt dieses Phänomen immer schon. Gerade in der Reportagefotografie erscheinen uns doch oft jene Bilder authentisch, die gewisse Fehler enthalten. Paradoxerweise glauben wir Fotos eher, wenn sie verwackelt oder verschwommen sind, wenn sie unter- oder überbelichtet sind, wenn sie Teile des Geschehens abschneiden oder andere Fehler zeigen, die dafür zu sprechen scheinen, dass sie tatsächlich vor Ort und im Herzen des Geschehens entstanden sind.
Das ist, was Roland Barthes einmal als "Realitätseffekt" bezeichnet hat: Jene unscheinbaren Kleinigkeiten, die an sich bedeutungslos sind, aber uns gerade deshalb durch ihre Anwesenheit davon überzeugen, dass wir es mit der Wirklichkeit zu tun haben. Unschärfe könnte man dementsprechend als einen fotografischen Realitätseffekt bezeichnen. Perfekte Fotos sind viel eher verdächtig, inszeniert oder nachträglich manipuliert zu sein, als verwackelte. Ich stelle mir vor, hier im Hauptstadtstudio der ARD weiß man darüber mehr als irgendwo anders: Welche spezifischen "Fehler" braucht ein Bild, um glaubwürdig zu wirken?
Pleßmanns Bilder spielen mit diesem Aspekt.
Die aufgenommenen Gegenstände sind niemals so weit verfremdet, dass man gar nichts mehr erkennen könnte – sie sind nur so weit abstrahiert, dass man sie eher als Farbwerte, als formale Strukturen zu sehen bereit ist, denn in einer minutiösen Darstellungsweise. Was ich besonders überraschend finde, ist der Umstand, dass auch der Eindruck von räumlicher Tiefe zumeist erhalten bleibt.
Pleßmann treibt seine Fotografie also gerade so weit, dass sie nicht mehr als Reportage durchgehen – sie haben gerade aufgehört, eine Geschichte zu erzählen. Aber sie sind noch nicht so weit, dass sie bis zur Gegenstandslosigkeit abstrahiert wären. Sie loten die Grenzen des Mediums Fotografie aus und geben uns auf diesem Weg Neues zu sehen – genuin Fotografisches.
Was wir hier zu sehen bekommen, ist insofern nicht die Darstellung selbst. Wie bei Duchamps "Akt, eine Treppe hinabsteigend" geht es nicht um die Treppe, sondern um die Art der Darstellung. Was wir hier zu sehen bekommen, ist der Akt des Fotografierens selbst (im Sinne der Tätigkeit des Auslösens).
Darin liegt nach meiner Meinung der außergewöhnliche Wert dieser Bilder: Indem sie – wie Delacroix – an die Grenzen des Mediums gehen, lehren sie uns, das Fotografische am Foto zu sehen.